Kino immer anders


In Norditalien liegt Bologna, die Hauptstadt der Emilia-Romagna-Region. Knapp 400’000 Einwohner*innen füllen die Studentenstadt. Unmengen an Restaurants und Cafés säumen die Strassen, und es gibt viel zu sehen: Die zwei historischen Türme, die Piazza Maggiore oder die Basilica San Petronio. Doch all dies rückt einmal pro Jahr im Juni in den Hintergrund, wenn Tausende Filmfans nach Bologna pilgern, um das «Il Cinema Ritrovato» zu besuchen. Das Festival findet seit 1986 alljährlich statt und widmet sich ganz den Restaurierungen, Wiederentdeckungen oder ganz allgemein gesprochen der Geschichte des Kinos. In verschiedenen Sektionen werden grosse Klassiker aufgehübscht gezeigt, unbekannten Regisseur*innen Retrospektiven gewidmet oder 100-jährige Stummfilme mit Live-Musik aufgeführt, bevor am Abend dann auf der Piazza Maggiore oder der Piazzetta Pier Paolo Pasolini Filme unter freiem Himmel projiziert werden.

Seit bereits einigen Jahren ist die Filmstelle nun jeweils mit einigen Mitgliedern am Festival vertreten. Für mich selbst war es bereits die fünfte Ausgabe. Ein Reisebericht.

Ich kam dieses Jahr etwas verspätet am Festival an. Die Reise vom Zürich HB gestaltete sich wie eigentlich immer als sehr entspannt. Knapp vier Stunden fährt man nach Milano, wo man in einen Frecciarossa umsteigt, um dann etwas mehr als eine Stunde später im Bologna Hauptbahnhof einzutreffen. Für mich geht es an diesem Sonntagmorgen schon früh los, damit ich noch rechtzeitig für die Nachmittagsvorstellungen ankomme. Kurz nach 12 fährt mein Zug in Bologna ein. Dann geht es ins Apartment, ich mache mich kurz frisch, und auf geht’s zum Festival Zentrum, das sich direkt beim Cinéma Lumière befindet. Ebenfalls dort findet sich der Shop, welcher gefüllt ist mit Blu-Rays/DVDs, zahlreichen Büchern über Filme, Postern, Platten und allerhand kleinem Krimskrams. Nachdem ich meinen Festivalpass geholt habe, sprinte ich schon fast zum ersten Film, «Seisaku’s Wife» (1965). Wie so oft am Filmfestival in Bologna weiss ich nicht, was mich erwartet – so auch heute. Umso mehr bewegt mich der Film über Ehre und Liebe im Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
So geht es die nächsten Tage weiter; von Kino zu Kino, von Film zu Film. Dazwischen tauscht man sich rasch darüber aus, was man gerade gesehen und was man alles noch geplant hat. Über Mittag und insbesondere abends setzt man sich in eines der vielen Restaurants und isst hervorragende Pasta, Pizza oder die Spezialität «cotoletta alla bolognese». In meinem zugegebenermassen viel zu eng gestrickten Plan ist dafür dieses Jahr leider nicht allzu viel Zeit. Dennoch geniesse ich jede Minute bei den gemeinsamen Essen und kann dafür umso mehr Filme sehen. Insgesamt habe ich es in knapp über 40 Screenings geschafft. Da es den Rahmen sprengen würde, jedes einzeln zu besprechen, sollen hier nur die Highlights vorgestellt werden (geordnet nach Chronologie und Filmreihen, in denen ich die Filme gesehen habe).

Cooking Price-Wise

Ein erstes Highlight kam gleich am ersten Abend. Da der Film auf der Piazza nicht besonders interessant wirkte, eine Entwicklung, die sich dieses Jahr leider durch das Festival zog, entschied sich unsere Gruppe für «The Quatermass Xperiment» (1955). Der Film selbst war bestenfalls Mittelmass, doch vor dem Film wurde uns eine Episode «Cooking Price-Wise» gezeigt; Eine alte Kochsendung, in welcher der Darsteller Vincent Price uns seine neusten und kreativsten Rezepte zeigt. In dieser Folge wurden uns spannende Rezepte mit Käse vorgestellt. Eine wahre Perle, die man wohl sonst kaum entdeckt hätte. Insbesondere die Präsentation von Käse in Form eines Monsters war fabelhaft.

Cinemalibero

Der zweite Tag begann direkt mit einem weiteren Highlight, «Gehenu Lamai» (1978) oder übersetzt «The Girls». Gezeigt in der Programmreihe Cinemalibero, die sich dem Weltkino und Filmen abseits der grossen Produktions- und Distributionswege widmet, erzählt der sri-lankische Film eine herzzerreissende Geschichte über das Erwachsenwerden junger Mädchen: über Erwartungen, erste Liebe und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Mit vielen intimen Close-Ups erzählt, bleibt der Film sehr nahe an seiner Protagonistin, welche die schönen, aber auch enttäuschenden Seiten des Lebens entdeckt.
Es sollte während des ganzen Festivals so bleiben, dass Cinemalibero ein paar der stärksten Filme beinhalten sollte. So auch das Drama um die Nachkriegszeit in Guinea-Bissau «Mortu Nega / Those Whom Death Refused» (1988), das einen ganz anderen, sehr naturalistischen Blick auf eine vom Bürgerkrieg gezeichnete Gesellschaft erlaubte.

Ebenso überraschte die iranische Adaption von Woyzeck mit dem Namen «Postchi / The Postman» (1972). Der surreale Ansatz, der schön die Unfähigkeit der Arbeiterschicht, sich gegen die Unterdrückung der Reichen aufzulehnen, unterstützt, kreiert einen unterhaltsamen, wenn auch zugleich frustrierenden Film.

Zuletzt sollte in der Reihe auch «La Paga / The Wage» (1962) noch gelobt werden. Die Ko-Produktion aus Venezuela und Kolumbien ist das ruhige Portrait eines Arbeiters, welcher Tag ein, Tag aus für eine lächerlich niedrige Bezahlung das Land seines Herren bearbeitet. Seine Grundbedürfnisse kann er nicht decken und auch die Medizin, die sein kranker Sohn benötigt, kann er sich nicht leisten. Lange beobachten wir die anstrengenden Tage und Frustrationen, welche er erlebt, bevor er versucht zu rebellieren. Es ist ein genau beobachteter Film, der seine beissende Kritik zuerst durch die Ausbeutung des Arbeiters in seinem Alltag, später im Kontrast mit den hohlen Versprechen eines Politikers äussert. Die Langsamkeit des Films ist dabei bewusst gewählt, um den Zuschauer*innen den schleppenden Alltag näher zu bringen. Für einige Filmstelle-Mitglieder war das Screening zusammen mit dem Kurzfilm «Safar / Journey» (1972) ein absolutes Highlight.

Willi Forst

Am Mittwoch, dem fünften Festivaltag wurde endlich auch Filme meiner meisterwarteten Reihe gezeigt, «Masks and Musik: The Films of Willi Forst». Ich freute mich aus zwei Gründen sehr darauf. Zum einen spielte Willi Forst die Hauptrolle in einem meiner absoluten Lieblingsfilme («Das Lied ist aus» 1930), den ich ebenfalls in Bologna entdeckte. Zum anderen handelte es sich um den gleichen Kurator, welcher auch schon in der Vergangenheit ein paar meiner absoluten Festival Highlights, wie zum Beispiel eben «Das Lied ist aus», programmierte. Dementsprechend war ich auf alle vier Filme, die in dieser recht kleinen Reihe gezeigt wurden, sehr gespannt. Kurz gesagt: Alle davon waren super! Insbesondere «Mazurka» (1935) soll hier hervorgehoben werden. Die Geschichte beginnt mit einer jungen Frau, die von einem aufdringlichen Musiker bedrängt wird. Nachdem er nicht lockerlässt, willigt sie ein, einen gemeinsamen Abend zu verbringen. Dieser wird aber von einer anderen Dame gestört, die beim Anblick des Paares in Ohnmacht fällt und den Musiker im Anschluss ermordet. Hier wechselt der Film die Perspektive und die Mörderin erzählt vor Gericht ihre Lebensgeschichte, welche sie zu dieser Tat bewegte. Was folgt ist ein rührendes Portrait einer Frau, die für ihre Tochter alles aufgibt, selbst dann, als sie schon alles verloren hatte. Forst nutzt Techniken, insbesondere in der Montage, die heute noch modern wirken und nichts an ihrer Wirkung verloren haben. Die Flashback Erzählstruktur ermöglicht es dem Film, gewisse Szenen zu rekontextualisieren, was gegen Ende des Films einige Zuschauer*innen nach Luft schnappen liess. Zudem benutzt Forst, wie in all seinen Filmen, die Musik als zentrales Element; Der Tanz und die Melodie der Mazurka werden konstant als Leitmotiv für unsere Hauptdarstellerin verwendet. Dieses Motiv wird präzise eingesetzt, um die Figur und ihren Wandel zu charakterisieren. Und dann kommt da am Ende diese eine Szene. Eine so pure Darstellung von Liebe und Hingabe habe ich noch selten gesehen; es hat mir wortwörtlich den Atem verschlagen. Selbst jetzt, über eine Woche nach dem Festival, kriege ich noch Gänsehaut beim Gedanken daran. Ein absolutes Muss und auch für viele andere Filmstelle-Mitglieder ist es einer der besten Filme der diesjährigen Ausgabe.

Norden Noir

Bei der Fülle an Filmen, die gezeigt werden, ist es manchmal notwendig gewisse Abstriche zu machen und manche Reihen kommen am Ende in der Planung oftmals zu kurz. So war es ursprünglich auch für mich bei der Reihe «Norden Noir». Wie der Titel es vermuten lässt, beschäftigte sich dieses Programm mit Film-Noir aus nord-europäischen Ländern, insbesondere Schweden, Dänemark und Norwegen. Aus Zeitgründen hatte ich sehr wenige dieser Filme eingeplant, doch, wie es so oft in Bologna passiert, landet man dann teilweise doch in einem Screening welches man so vorher gar nicht auf der Liste hatte. So erging es mir dieses Jahr mit «Døden er et kjærtegn / Death is a caress» (1949).  Es handelt sich dabei um einen Film der norwegischen Regisseurin Edith Carlmar, in dem sie sich mit der Figur der femme fatale beschäftigt.
Dieser Film bewegte mich schlussendlich dazu mir noch mehr Filme der Reihe anzuschauen. Dadurch stiess ich auch auf «Flicka och Hyacinter / Girl with Hyacinths» (1950). Der Film erinnert in seiner Struktur stark an «Citizen Kane». Eine Frau bringt sich um und ihre Nachbarn versuchen herauszufinden, was Sie dazu getrieben haben könnte. In Flashbacks und Erzählungen von vergangenen Weggefährten erfahren wir, wer die junge Dame war und weshalb sie den Freitod wählte. Der Film spielt mit den Erwartungen des Genres und unterwandert diese in den passenden Momenten. Was am Ende herauskommt, ist die tragische Geschichte, nicht nur einer Frau, sondern einer ganzen Gesellschaft, die vom zweiten Weltkrieg geprägt und zerstört wurde.

Auch die anderen beiden Noirs, die ich noch sehen konnte, «John og Irene / John and Irene» (1949) und «På slaget åtte / Eight O’Clock Sharp» (1957) sind beide durchaus empfehlenswert und machen neugierig was sonst noch so im Norden versteckt liegt.

Luigi Comencini

Leider erst zu spät für mich entdeckt habe ich Luigi Comencini. Die Spielzeiten und insbesondere der Umstand, dass die Filme oft im Cinema Modernissimo, dem am weitesten entfernten Kinosaal, liefen, führten dazu, dass ich bis Samstag keinen einzigen seiner Filme sah. Erst an jenem Morgen fand ich mich im Screening von «Senza sapere niente di lei / Unknown Woman» (1969) ein. Es dauerte nur ein paar Minuten und ich wurde das erste Mal freudig überrascht: Ennio Morricone zeichnete sich für den hervorragenden Soundtrack verantwortlich. Verspielt, mysteriös und traurig schön, ist es für mich eine seiner besten Kompositionen. Aber auch sonst weiss der Film zu gefallen. Ein Versicherungsdetektiv soll herausfinden, ob die Lebensversicherung einer verstorbenen Frau an ihre Familie ausbezahlt werden muss oder nicht. Im Laufe der Ermittlungen verliebt er sich in eine der Töchter, was sich nicht nur wegen seines Berufs als schwierige Beziehung entpuppt. Ein poetischer Film über Liebe, und wie schwer diese sein kann. Am Ende entlässt der Film die Zuschauer*innen mit der Unsicherheit zurück, ob man die Personen, die man glaubt zu kennen, wirklich kennt und ob es überhaupt möglich ist, andere Menschen zu verstehen. Und mich insbesondere mit dem Bedauern, nicht mehr Comencini Filme gesehen zu haben.

Open-Air Kino

Was natürlich nie fehlen darf bei einem Bologna Film Festival ist das Open-Air Kino. Nicht nur während des Festivals, sondern während des ganzen Sommers, verwandelt sich die Piazza in ein Kino, das seinesgleichen sucht. Mein diesjähriges Highlight war ganz klar Charlie Chaplin’s «The Gold Rush» (1925) mit Live-Vertonung eines Orchesters. Vielmehr muss dazu nicht gesagt werden. Die Stimmung war wunderbar, mit Applaus nach tollen Szenen und Musik, die einfach nur Freude macht. Auch ganz hinten stehend war es ein Abend, an den ich mich gerne und lange zurückerinnern werde.

Wenn man meinen werten Filmstelle Kolleg*innen glauben möchte, was ich grundsätzlich natürlich immer tue, war «Strike» (1925) von Sergei Eisenstein mit Live-Vertonung einer der Höhepunkte des Festivals. Nicht mit klassischer Musik, sondern von einer Band eingespielt, war der Abend wohl besonders eindrücklich. Ich persönlich entschloss mich an jenem Abend aber für «Barry Lyndon» (1975), einen Film, den ich, seit ich mich für Kino interessiere, auf der Watchliste hatte. Viel muss man dazu glaube ich nicht sagen. Ohne Zweifel einer von Kubricks besten und allgemein einer der schönsten und beeindruckendsten Filme überhaupt, mit einem so cleveren und teils unerwarteten Humor, dass die drei Stunden wie im Flug vergehen.

Katherine Hepburn

Ähnlich wie bei den Norden Noirs verlief es für mich auch mit der Katherine Hepburn Retrospektive. Da ich bereits ein paar Filme mit ihr gesehen hatte, sie meist einfacher zu finden sind und ich in Bologna versuche eher unbekanntere Filme zu schauen, war ursprünglich nur einer ihrer Filme geplant. «Woman of the Year» (1942) von George Stevens war dann auch okay, wenn auch etwas gar in die Jahre gekommen, insbesondere in seiner Vorstellung von Geschlechterrollen. Da durch Umplanungen aber ein weiterer Slot für «Holiday» (1938) frei wurde, ergriff ich die Chance und wurde total überrascht. Eine wunderschöne Geschichte über die Liebe, welche selbst dem Kapitalismus trotzt. An einer Stelle beschuldigt der böse Vater den von Cary Grant gespielten Protagonisten, er sei unamerikanisch, da er lieber reisen möchte als unendlich Geld zu scheffeln. Eine Aussage, die mich in diesem Film, den ich zu Beginn nur für eine seichte Liebesgeschichte hielt, doch überrascht hat.
Von «Holiday» so begeistert beschloss ich aller letzten Film am Festival mir «Summertime» (1955) von David Lean anzusehen. Es stellte sich heraus, dass dies wohl die beste Entscheidung des ganzen Festivals war. Hepburn spielt eine Frau mittleren Alters, welche sich ihren Lebenstraum erfüllt und nach Venedig in die Ferien reist. Sie erhofft sich, ein grosses Abenteuer zu erleben und insbesondere die Liebe ihres Lebens zu finden. Was wie eine 08/15 RomCom klingt, entpuppte sich als berührendes Drama über Hoffnungen, Träume, Liebe, sowie die Angst zu Lieben. Als am Ende des Films der Zug abfuhr wurde ich nicht nur wegen des Films selbst, sondern auch, da meine Ferien vorüber waren, ein wenig melancholisch. Ein perfekter Abschluss. Nach einem letzten Pizza-Essen mit der einzigen noch verbliebenen Kollegin, ging es auch für mich zurück nach Zürich, weg von den Kinos, Restaurants und Cafés. Weg von den Filmen.

Bis bald Bologna

Es gäbe noch so viel zu berichten und so viele Filme zu besprechen, doch das alles würde etwas sehr ausarten. Kurz anmerken möchte ich noch, dass der fantastische «Killer of Sheep» (1978) in der neuen Restauration gezeigt wurde, welche momentan auch noch im Kino Xenix vorgeführt wird.

Meine Begleiter*innen meinten zudem, dass «The Komissar» (1967) ein absolutes Muss wäre. Ein Versäumnis, das ich hoffentlich bald einmal nachholen werde. Auch die Schweizer Ko-produktion «Rapt» (1943) wurde hoch gelobt, ebenso das italienische Drama «Riso Amaro» (1949).

Abschliessend bleibt mir nur zu sagen, dass Il Cinema Ritrovato ist für jeden Filmfan mindestens einmal im Leben ein Muss. Von frühmorgens bis spätnachts Filmperlen zu entdecken, die italienische Küche inklusive Gelato und Kaffee zu geniessen und sich zwischendurch mit Freunden austauschen gehört für mich jedes Jahr zu den Highlights. Um es mit den Worten der Band Wanda zu sagen «Wenn jemand fragt, wohin du gehst, sag nach Bologna».

-Jérôme Bewersdorff


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