Kino immer anders


Im Zyklus «Times Are Changing» zeigten wir Werckmeister Harmonies vom ungarischen Regisseur Bela Tarr aus dem Jahre 2000. An jenem Abend machte ich wohl eines meiner intensivsten Filmerlebnisse an der Filmstelle bisher. Dabei ist die Story des Films eher simpel: In einem kleinen Dorf kommt es zu Unruhen und Aufständen, nachdem ein geheimnisvoller Prinz mit einem Blauwal auftaucht.

Klingt absurd, ist es auch. Doch nicht die allegoriegetränkte Geschichte fesselte mein Blick an die Leinwand, sondern die visuelle Erzählweise. Denn der gesamte Film mit einer Spieldauer von 145 Minuten besteht aus nur 39 ewig langen Einstellungen, in denen sich die Veränderung des Dorfes entfaltet.

Solche grösseren strukturellen Einheiten ohne Schnitt bezeichnet man als Plansequenzen: Zumeist höchst komplexe und kompliziert zu filmende Szenen. Tarrs Filme sind berühmt für die desolate Atmosphäre, die durch Kamerabewegung und Plansequenzen erzeugt wird, und Werckmeister Harmonies ist keine Ausnahme. Wenige Regisseure nutzen die unvergleichbare Ästhetik von Plansequenzen so konsequent wie Tarr. An seine Seite stelle ich hier einen Landsmann Tarrs und einen Film von diesem: The Red And The White von Miklos Jancso aus dem Jahre 1967.

Es handelt sich um einen Kriegsfilm, in dem sich die rote Fraktion der Bolschewiken und die weisse Fraktion der Zaristen bekämpfen. Ähnlich wie bei Tarr ist die Erzählung nicht vielschichtig und sonderlich komplex. Doch ebenso verleiht die filmische Erzählweise durch den Gebrauch von Plansequenzen dem Dargestellten eine weitere Dimension. Während bei Werckmeister Harmonies so die Auswirkungen der Ankunft des Prinzen auf das Dorf in ihrem vollen Ausmass abgebildet werden, setzen die Plansequenzen in The Red And The White den Einschnitt des Krieges und dessen Konsequenzen mit höchster Wirkungskraft um. Nun mag man die eher gemächliche Entwicklung beider Filme – was durchaus auch den Plansequenzen zugeschrieben werden kann – als langweilig betrachten.

Letzten Endes hängt es von der subjektiven Präferenz ab. Doch genau diese Langsamkeit, die die Plansequenzen in beiden Filmen mit sich bringen, werte ich positiv. Denn indem die Raumzeit intakt bleibt – was ja eine mögliche Definition von den grösseren strukturellen Einheiten ist –, bekommt das Abgebildete eine realistische Wirkung. Dies mag widersprüchlich erscheinen, weil die Plansequenz meistens höchst kalkuliert und künstlich sind. Trotzdem plädiere ich für einen realistischen Effekt in den Filmen von Tarr und Jancso, weil das Geschehen in den einzelnen Episoden unzerstückelt und zusammenhängend erfahrbar wird.

Dieser Wesenszug von Plansequenzen bringt eine inhärente Spannung mit sich: Während die Zuschauer die Begebenheiten gewissermassen „live“ mitverfolgen können, bleibt ihr Blickfeld begrenzt – die Zeit ist dieselbe, doch die Raumentfaltung wird durch den filmischen Rahmen kontrolliert. Jancso macht vom Off-Screen gekonnt Gebrauch, indem beispielsweise Schüsse ausserhalb des Blickfeldes der Kamera fallen und die Konsequenzen solcher Handlungen erst im Verlauf der Plansequenz in den Gesichtskreis kommen. Der Raum als Handlungssphäre bekommt in The Red And The White verschiedene Points of Interest, zwischen denen der bewegte Rahmen die Aufmerksamkeit changiert.

So besitzt der Film nicht nur Choreografien der Figuren, sondern auch des Raums. Eine Rauminszenierung ist selbstredend nicht auf Plansequenzen beschränkt. Doch in diesen findet sie gleitend statt – der Raum fliesst mit und in der Zeit. Das Geschehen und die handelnden Figuren wie auch die Kamera werden untrennbar mit der Raumzeit verbunden. Und die Plansequenz ist Ausprägung sowie Dokument von dieser Verbindung. Insofern sind Werckmeister Harmonies und The Red And The White realistisch: Weil sich die Darstellungsweise von Handlungsabläufen der menschlichen Wahrnehmung annähert. Objekte und Begebenheiten besitzen im Raumzeit-Kontinuum keine Bedeutung oder Qualitäten. Erst die menschliche Aufmerksamkeit hebt sie hervor und wertet sie durch das Erfahren. Und diesen Wahrnehmungsprozess imitieren die Plansequenzen in den Filmen der beiden ungarischen Regisseure.

Nico Uebersax


Weitere Filmkritiken