Kino immer anders


Boys Don’t Cry ist kein sonderlich einladender Film: er spielt irgendwo im Nirgendwo in Nebraska, begleitet ausschliesslich Figuren aus der untersten sozialen Schicht und ist im Stil stark am typischen B-Movie orientiert. Die Bezeichnung „einer der besten LGBT-Filme überhaupt“ und die affektierte Meinung von Kollegen sie hätten „ja sooo weinen müssen“ sind vielleicht auch nicht die aussagekräftigste Werbung für diesen Film; was schade ist, weil er wirklich eure Zeit wert ist!

Die spoilerfrei beschriebene Handlung geht in etwa so: Eine Transfrau flieht vor gewalttätigen Meuten und juristischen Problemen in die Ferne, wo sie die Bekanntschaft selbstständig lebender Jugendlicher macht, und sich in eine von ihnen verliebt. Es ist natürlich unvermeidbar, dass das Geheimnis der Transfrau früher oder später ans Tageslicht kommen muss.

Selber stempelt man diese Menschen vielleicht direkt als „Rednecks“ ab, aber im Verlauf des Films wird schnell klar: man muss über das Ländliche, Begrenzte und Aussichtslose hinwegsehen und dann erkennt man dieselbe Bandbreite an Emotionen in diesen Menschen wie man sie von sich selber kennt. Dabei liegt der Schwerpunkt so sehr auf das Freiheitsgefühl und das Wildsein, dass man an eine Zeit und an einen Ort nostalgisch wird, die man womöglich beide gar nicht kennt.

Zwischendrin wird der Film zu einer regelrechten Lobeshymne an das Leben und an die Leidenschaft; die Einstellungen, das Schauspiel, die Farben und der Soundmix sind teilweise so nuanciert und passend, dass die Geschichte voll aufblühen kann. Selten habe ich bei einem Film eine so gekonnt umgesetzte Gesamtästhetik erlebt. Kein Diamant von einem Film, aber ungehalten ehrliche und meisterhafte Kunst! Das Schönste am Ganzen: Vorurteile, egal welcher Art, werden fallengelassen. Transfrau und Rednecks: immer noch Menschen, die wir sehr gut verstehen und zu denen wir jede Menge Empathie empfinden können.

Alles steuert auf ein euphorisches Ende hin und mit einer fatalen Enthüllung – wie man das von den klassischen Tragödien kennt – kippt das Ganze plötzlich. Und auch hier weiss der Film den Zuschauer fest zu packen und durchzurütteln. Wenn der Abspann läuft, tun das die Tränen ebenso. Und mit einem letzten Verzweiflungsakt rast die Kamera unter penetrantem Neonlicht schnell ganz, ganz weit weg vom Ort der Handlung. Und auch man selber möchte nicht unbedingt zurück, auch wenn es anfangs sehr schön war in der Nebraska-Jugend.

Carlos Hartmann


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