Kino immer anders


Nach zehn Jahren Wartezeit ist es endlich wieder so weit. Hayao Miyazaki, der Pensionierte, der das Geschichtenerzählen einfach nicht lassen kann, bringt nun doch wieder einen Film heraus. Kurz erscheint das Ghibli-Logo, dann heulen die Sirenen. Tokyo, 1943. Die Stadt steht in Flammen. Der zwölfjährige Mahito wird vom Tumult geweckt: Das Krankenhaus, in dem seine Mutter arbeitet, brennt. Verzweifelt rennt er zum Krankenhaus, kann es aber im allgemeinen Chaos nicht erreichen.

Von Mahitos Mutter bleibt keine Spur. Wenig später heiratet sein Vater erneut – und zwar die Schwester seiner ehemaligen Gattin, Natsuko. Um dem Bombenhagel zu entkommen, zieht die Familie auf ihr altes Anwesen auf dem Land. Schon bald entdeckt Mahito dort einen versperrten, mysteriösen Turm. Ausserdem lungert auf dem Anwesen ein Reiher rum, der auffällig viel Interesse an Mahito zeigt. Mahito fühlt sich dort nicht wohl, auch auf der Schule findet er keinen Anschluss. Er vermisst seine Mutter und hat Albträume über die Nacht, in der sie starb.

Nachdem der Reiher Mahito mitteilt, seine Mutter lebe noch, und die schwangere Natsuko in der Nähe des Turms verschwindet, ist die Sache für Mahito klar: Er geht in den Turm, koste es, was es wolle.

Was folgt ist eine Reise in eine für Miyazaki typische Zauberwelt, die die Herzen hartgesottener Ghibli-Fans und die, die es noch nicht sind, höherschlagen lässt. Die Animation wirkt auch im Vergleich zu anderen Ghibli-Filmen, die ja um ihre Schönheit und ihren Detailreichtum bekannt sind, opulent.

Die Geschichte hat oberflächlich viel gemeinsam mit ¬Chihiros Reise ins Zauberland. Auch hier muss ein Kind lernen, sich auch um Andere zu kümmern, oder Familienmitglieder aus einer rätselhaften Zauberwelt rausholen. Allerdings ist Der Junge und der Reiher wohl Miyazakis düsterster Film seit Prinzessin Mononoke. Das Niedliche reibt Schulter an Schulter mit dem Grausamen. Vieles ist dabei bekannt aus seinen früheren Filmen. Starke Frauen spielen bedeutende Rollen, es geht um Umweltzerstörung, Freundschaft, Verantwortung, die Bedeutung und die Tücken der Fantasie. Auch die europäische Ästhetik der Zauberwelt gab es schon in Filmen wie Das Schloss im Himmel, Porco Rosso, oder Das wandelnde Schloss zu sehen. Wie bei allen Miyazaki-Filmen seit Nausicaä aus dem Tal der Winde komponierte Joe Hisashi den Soundtrack.

Neu ist eine Todessymbolik, die es so noch in keinem seiner Filme gegeben hat. Ein zentrales Thema im Film ist die Vererbung, und der Umgang mit dem Erbe. Besonders auffällig ist dabei die Landschaft der Zauberwelt, die an mehreren Stellen an Böcklins Die Toteninsel erinnert. Sowieso trieft Miyazakis neuste Zauberwelt geradezu vor Symbolismus. Diese Symbolik zu entschlüsseln, kann Freude bereiten, aber es ist gewiss nicht jedermanns Sache. Sie droht vom Geschehen abzulenken, wodurch die Sequenz in der realen Welt emotional eine stärkere Wirkung entfalten kann als die in der Zauberwelt. Das dabei auch ab und zu die Grenze zum Kitsch in Sichtweite kommt, ist bei Miyazaki nicht unbedingt neu.

Für Interessierte gibt es im Addendum eine paar Interpretationsansätze. Achtung Spoiler!

Eigentlich war Wie der Wind sich hebt schon Miyazakis Abschied. Sein erneuter Abschied in diesen Film wirkt schon eher wie ein Kenotaph. Wer sich darauf einlässt, darf sich auf viel Fantasie freuen – und auf die mörderischsten Wellensittiche, die je im Kino zu sehen waren.

Michael Schmutzer

Addendum

Die Zauberwelt steckt voller Symbole, die in ihrer Doppeldeutigkeit und der Schnellheit, in der sie einander im Film folgen, recht verwirrend sein können. Mir war es beim Filmschauen zu viel und ich konnte in einigen Momenten nicht nachvollziehen, was denn überhaupt los ist. Hier möchte ich ein paar Denkansätze geben. Ich kann keine definitive Interpretation liefern, und ich nehme mir die Freiheit, diesen Teil in Zukunft noch zu ändern. Vieles ist mir entgangen, noch unklar oder habe ich gar nicht erkannt. Reaktionen, Vorschläge oder Ergänzungen nehme ich gerne bei contact@filmstelle.ch entgegen.

Nach einer langen Reise durch die Zauberwelt trifft Mahito letztendlich den Schöpfer dieser Welt, sein Grossonkel der Zauberer, oder auch: Geschichtenerzähler. Der Zauberer als Geschichtenerzähler ist keineswegs neu (z.B. The Tempest), und er steht womöglich sogar für Miyazaki selber. Lustiges Detail; der Zauberer soll vom zu vielen Bücherlesen „verrückt“ geworden sein (Don Quixote). Dieser Zauberer regiert über seine Zauberwelt, die er frei vom „Bösen“ der realen Welt erschaffen hat, die jedoch schon längst aus den Fugen geraten ist. Im Gegensatz zu seinem Grossonkel, der sich des Bösen, das er in seine Zauberwelt hineingetragen hat, nicht bewusst ist, kennt Mahito sein Potenzial zum Bösen. Er weiss, er ist dieser Erbschaft einerseits nicht würdig, andererseits will er sich dem realen Leben hinwenden (siehe unten).

Der Zauberer bedient sich dabei von Zauberblöcken. Das eher kindisch anmutende Bild der Zauberblöcke, die immer wieder neu zusammengesetzt werden können und so andere Welten erzeugen, ist eine Metapher für das Geschichtenerzählen. Geschichten sind auch aus verschiedenen Erzählelementen aufgebaut (Mensch geht auf Reisen, Held tötet Monster, böse Stiefeltern, usw., siehe auch Aarne-Thompson-Uther-Index), die in der Zahl begrenzt sind aber in der Kombination fast unzählige Geschichten möglich machen. Ein weiterer Hinweis: Es heisst von den Blöcken, sie seien aus allen Zeitaltern zusammengesammelt. Wie wohl die Handlung des Films.

Warum aber werden diese Elemente geradezu lächerlicherweise als Spielzeugblöcke dargestellt? Hier tippe ich auf eine Selbstabwertung (vielleicht auch ein Scherz) Miyazakis, der es ja fast vorzieht, in den Fantasiewelten seiner Filme zu leben. Die Spielzeugblöcke weisen auf das Unmündige des Eskapismus, der Flucht vor der „bösen Welt“, die Mahito letztendlich verwirft. Mit dieser Selbstkritik fordert Miyazaki den


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