Kino immer anders


Zwei Gläser Weisswein zur Stärkung genehmigt sich Hervé, Inhaber einer Presseagentur, bevor er die Reise zur Kur antritt, die ihm helfen soll, seine Alkoholsucht zu bekämpfen. In einer gediegenen Klinik, an einem abgelegenen Ort, umgeben von idyllischer Natur, soll er mit einer Gruppe von Leidensgenossen von seiner Krankheit loskommen. Zunächst begegnet er den anderen Patienten, die einander grosse Solidarität entgegenbringen, mit Argwohn und beteiligt sich weder am therapeutischen Gruppengespräch noch an gemeinsamen Aktivitäten. Das stärkende Mantra, das die Patienten sich täglich vorsagen, um Kraft zu gewinnen, und die ermutigenden Worte der Therapeuten tut er mit einem erhabenen Lächeln als sektiererischen und pseudosolidarischen Schwachsinn ab. Doch schon bald gewöhnt sich auch Hervé an seine neue Situation und findet in seinem Zimmergenossen Pierre einen Freund. Und als die 23-jährige, rebellische Magali zur Gruppe stösst, scheint er richtiggehend aufzublühen. Die junge Rebellin, die seine Tochter sein könnte, weiss ihre sexuellen Reize geschickt einzusetzen, doch was sich zwischen den beiden entwickelt, bleibt ein Spiel, wie das meiste, was zwischen den Gruppenteilnehmern abläuft. Denn die Patienten spielen sich nicht nur gegenseitig etwas vor, sondern betrügen sich in erster Linie auch selbst.

Der Film Le dernier pour la route basiert auf dem gleichnamigen Roman von Hervé Chavalier, der darin die Erfahrung mit seiner Alkoholsucht autobiografisch verarbeitet hat. Dieser Ausgangslage und der Mitsprache des Autors am fein ausgearbeiteten Drehbuch ist es zu verdanken, dass der Film nicht aufgesetzt wirkt und sich (nicht) auf den Blickpunkt eines nichtwissenden Aussenstehenden beschränkt.

Die Dialoge und Figuren wirken durchaus authentisch, dies unter anderem auch der klugen Rollenbesetzung wegen. Allen voran vermag François Cluzot als Hervé zu überzeugen, der mit seinem subtilen Spiel der Figur Charakter und Tiefe verleiht. Philippe Godeau ist mit seinem Erstling als Regisseur ein unterhaltsamer Film über ein ernstes Thema gelungen.

Der Film vermag die komplexen und paradoxen Empfindungen der Alkoholiker glaubwürdig aufzuzeigen, selbst wenn der innere Kampf, der ein Suchtkranker mit sich führt, der Hass und Ekel vor sich selbst, für einen Aussenstehenden wohl kaum je gänzlich nachzuvollziehen ist. Spannend zu beobachten ist auch die Gruppendynamik zwischen den einzelnen Patienten. Das Motto: „Gemeinsam sind wir stark“ lässt sich in manchen Szenen zumindest in Frage stellen. Trotz dieser Komplexität, die der Film stellenweise aufzuzeigen vermag, fragt man sich, weshalb die Geschichte eines Suchtkranken und sein langwieriger Prozess bis zur Abstinenz in einen knapp zweistündigen Film verpackt werden soll.

Der Regisseur gibt in einem Interview als Motivation zu diesem Projekt an, dass er das Publikum berühren und zum Nachdenken bringen wolle. Doch gerade an diesem Punkt scheitert der Film. Es ist gerade der Unterhaltungswert, diese unerträgliche Leichtigkeit, die Harmonie, die das Gruppenleben suggeriert, die es einem als Zuschauer verunmöglicht, ernsthaft erschüttert zu werden. Einzig die wenigen Archivbilder, Videoaufzeichnungen der realen Familie von Hervé, schürfen an der sonst eher glatten Oberfläche. Man ist zwar betroffen von der Geschichte dieses durch seine Kindheit gezeichneten Mannes, doch die Berührung bleibt eine flüchtige.

Anja Schulthess


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