Kino immer anders


Die französische Filmregisseurin Agnès Varda hat letztes Jahr ihren 80. Geburtstag gefeiert. Das ist der perfekte Zeitpunkt, um zurückzuschauen und die eigene Biographie zu schreiben. Wie sie für den Film Sans toi ni loi deklarierte, ist für sie die Kamera das, was für einen Schriftsteller die Feder ist. Sie nimmt also ihre MiniDV-Kamera und ihren Schnittplatz und setzt zusammen und kommentiert 50 Jahre ihres Lebens und Schaffens.

Schon seit Les Glaneurs et la Glaneuse hat Agnès Varda das Thema der  Erinnerung untersucht. Mit diesem Film erreicht sie aber einen Höhepunkt. In einer Szene findet sie eine schöne Aphorismus: «Die Erinnerungen sind wie Fliegen, die mich umzingeln und in meinem Kopf herumschwirren» («mes souvenirs m’entourent comme des mouches, qui s’embrouillent (…) qui virevoltent, des bouts de mémoire en désordre»). Sie repräsentiert also die Insekten wie Flecken auf dem Bild, die gleichzeitig verstecken und verraten in einer Zickzack-Komposition des Gedächtnisses.

Am Filmanfang inszeniert sie sich selbst. Heute als alte Dame, damals als zufriedenes Kind. Immer auf der Kippe zwischen Dokumentation und Fiktion, aber mit viel Respekt für die Wahrheit, was auf Griechisch, der Sprache des Herkunftslandes ihres Vater, Varda heisst.

Dann rekonstruiert sie ihr Leben, von ihrer Kindheit in Belgien bis zum Tod ihres geliebten Lebenspartner Jaques Demi, mit viel historischem Material aus ihrem persönlichen Archiv. Darunter Film- und Fotocameen von Stars und Künstlern, wie Janes Birkin, Gerard Depardieu, Harrison Ford, Jim Morrison, Jean-Luc Godard, Jean Vilard,  Gerard Philippe, Alexander Calder und anderen bis zu Fidel Castro.

Ihre Geschichte betrifft den zweiten Weltkrieg, die Nouvelle Vague, die 68er Bewegungen, die Black Panters und die Anti-Vietnamkrieg Manifestationen, die feministische Revolution, das Starsystem der achtziger Jahre und die neuen globalisierungskritischen Tendenzen. Der Film ist das Fresko einer Ära, welche mit neugierigen und klugen Augen beobachtet wurde.

Es überrascht, wie frisch und experimentell das Resultat ist. Die 110 Minuten vergehen schnell zwischen den verschiedenen Themen. Es wird nie banal, nie langweilig, weil sie mit ihrem Gesicht, ihrer Stimme, ihren Händen immer im Film präsent ist um uns zu begleiten. Eine so interessante Offenheit ist selten auf der Leinwald und man könnte noch stundenlang ihren Erzählung zuhören.

Varda schaut in die Kamera, und läuft mit Krabbenschritten am Strand. Die Kamera wechselt ihre Perspektive und wir verstehen, dass wir sie in einem Spiegel sehen. Sie reist in der Vergangenheit auf der Suche nach sich selbst und wir können wie in einem Spiegelspiel nur fragmentarische und vielleicht scheinbare Spuren erkennen. Was zähl ist der phantastisch Spiel des Kinos, welches in nur zwei Stunden ein ganzes Leben zeigen kann.

Perla Ciommi


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