Es ist ja mal generell eine gute Idee ans Locarno Filmfestival zu gehen. Die Stadt hat einfach eine Anziehung, vor allem wenn Festival Trubel herrscht und Leopard Print jeden freien Platz schmückt. Dann kämpft man sich gerne durch unzählige Menschen, sintflutartigen Regen oder heisse Teerstrassen, um dann endlich im gemütlichen Kinosessel neue und alte Filmperlen zu geniessen. Ein Besuch am Festival lohnt sich also auf jeden Fall, aber ihr müsst euch leider bis zum August im nächsten Jahr gedulden. In der Zwischenzeit könnt ihr euch ja einfach ein paar meiner diesjährigen Lieblingsfilme ansehen.
Angefangen habe ich mit King Vidor’s SHOW PEOPLE, gewählt von John Waters und an diesem Abend live-vertont. Der Film dreht sich um Peggy Peppers Wunsch eine grosse Schauspielerin in Film-Dramen zu werden; mit ihrem Vater tuckert sie deshalb von Georgia bis nach Hollywood. Allerdings muss sie sich zunächst mit Rollen in Slapstick Komödien zufriedengeben. Als sie sich schliesslich dem Drama zuwendet und ihren Namen in Patricia Pepoire abändert, bleibt jedoch nicht viel von ihrem witzigen Charme. Empathisch wird im Film der Alltag in der Traumfabrik gezeigt, in der wohl noch nie etwas so war, wie es schien. So geben sich Dramen als pathetische Gefühlsduseleien zu erkennen, während der «billige» Humor von Komödien eine gewisse kindliche Freude ausstrahlt. Aber keine Sorge, trotz Unterwanderung gewisser Klischees, liefert Hollywood wie immer ein Happy End.
Verzerrte Traumbilder prägen diesen Kurzfilm von Joshua Gen Solondz. Übereinandergelegte, flackernde Aufnahmen sorgen für ein einzigartiges Seherlebnis. Es erinnert an die Sichtweise übermüdeter Reisender und die Verfremdung, die die Wahrnehmung dadurch erhält. Im Film werden Bilder übereinandergelegt und wieder auseinandergezerrt, pausenlos, wie sich auch beim Reisen die Eindrücke überlappen oder verschwinden.
Ich sage nur: blauer Einteiler mit Kapuze. Dieses Kleidungsstück ist zentral für den Film, in dem eine Frau ihr Haus eben nur, wenn überhaupt, in diesem Kleidungsstück verlässt. Sonst ist sie damit beschäftigt, schräge «dance moves» zu vollführen, Tomaten aus der Dose zu essen oder Suizidversuche zu verüben. Der tragikomische Film von Klaudia Reynicke liegt einem aber nicht so schwer auf der Leber, wie das jetzt klingen mag. Stattdessen geht man als Zuschauer mit auf eine surreale Reise in den Kopf von Seconda, der zentralen Protagonistin. Das ist nicht immer ein leichter Trip und oft versteht man kaum, was gerade passiert. Das macht aber nichts, denn eigentlich finde ich ihn dadurch umso realistischer.
Meditatives Kino, welches nicht langweilt, ist möglich. Schon lange bin ich nicht mehr in einer Filmwelt so gerne versunken wie in der von THE THIRD WIFE. Das Werk von Ash Mayfair lässt den Alltag einer vierzehn-jährigen Konkubine auf feinfühlige Art an einem vorbeigleiten. Trotz den tristen Themen wie der arrangierten Ehe und der weiblichen Unterdrückung, vor allem in Bezug auf den sozialen Status, gelingt es, eine gewisse Leichtigkeit zu behalten. Dies dadurch, dass die Natur und die Einbettung der Geschichte in einem ländlichen Setting einen gewissen Abstand schaffen; man bewahrt den Blick fürs grosse Ganze. Eine fremde Welt zieht einen in ihren Bann, die trotz der Tragik, in den wenigsten Momenten emotional ausufert. Vielmehr macht der Film die Alltäglichkeit und dessen Schönheit bewusst. Man erkennt die wunderbare menschliche Tendenz, Schönes, Poetisches in allem zu sehen, auch in schweren Momenten.
Kann man einen Film im Kino zeigen, der eigentlich Teil einer Kunstinstallation ist? Ja, finde ich, denn auch auf der Leinwand überzeugt das Werk von Larissa Sansour und Søren Lind. Es ist in zwei Bildhälften aufgeteilt und in der Mitte durch eine schwarze Linie getrennt. Er scheint in einer dystopischen Zukunft zu spielen, in der zwei Frauen in je einer Bildhälfte über den Umgang mit der Vergangenheit diskutieren. Soll man sie loslassen? Soll man sie vergessen? Soll man sich weiter daran erinnern, daraus lernen? Was braucht es, um weiterzumachen nach einer Katastrophe? Man fragt sich auch: Was passiert mit der Welt, nachdem schwarze Flüssigkeit durch unzählige Strassen fliesst und alles unter sich begräbt? Kann es danach einen Neubeginn geben? Es ergeben sich Fragen über Fragen und das Schöne ist, der Film liefert keine Antwort.
Isabel Leder