Kino immer anders


Eine Frau steht im schummrigen Licht vor dem Kruzifix und bittet Jesus Christus um Vergebung ihrer Sünden. Sie zieht ihre Bluse aus und beginnt, sich immer und immer wieder mit einer Geissel auf den Rücken zu schlagen. Minutenlang beobachtet die Kamera, wie sich ihr Rücken langsam rötet. Nach getaner Selbstkasteiung bedankt sich die Frau bei ihrem Erlöser und schwört ihm ihre Treue. Schon die Eröffnungsszene von Paradies: Glaube macht klar: Was hier folgt, wird dem Zuschauer einiges abverlangen.

Maria Hofstätter spielt darin die tief gläubige Anna Maria. Tagsüber im Krankenhaus arbeitend, verbringt sie Freizeit und Urlaub damit, mit ihrer Wandermuttergottes-Statue von Tür zu Tür zu pilgern und dabei Immigranten und Randständige zum rechten Glauben führen zu wollen. Eines Tages taucht Anna Marias Ehemann Nabil vor ihrer Haustüre auf, ein im Rollstuhl sitzender Moslem, der nach Jahren der Abwesenheit zu seiner Gattin zurückkehren und sich wieder in ihr Leben drängen will. Doch Anna Marias Glaube hat sich in der Zwischenzeit so radikalisiert, dass es innert kürzester Zeit zu immer heftigeren Auseinandersetzung zwischen den beiden kommt.

In Ulrich Seidls zweiten Teil seiner „Paradies“-Trilogie seziert der österreichische Skandalregisseur nach dem Sextourismus einsamer Westeuropäerinnen in Kenia in Paradies: Liebe die extreme Religiosität einer ebenso einsamen und sexuell frustrierten Frau. Dabei scheut sich Seidl nicht, seine Schauspieler extrem zu exponieren. Maria Hofstätters Hingabe zu ihrer Rolle ist beeindruckend. In den meist mit Laiendarstellern gefilmten, grösstenteils improvisierten Szenen zeigt sie, wie tief sie sich die Figur der Anna Maria einverleibt hat. Durch diesen fast dokumentarischen Ansatz entsteht eine Unmittelbarkeit, die beim Zuschauer unglaubliches Unbehagen auslöst. Die streng durchkomponierten Bilder der beiden Kameramänner Wolfgang Thaler und Ed Lachmann sind zwar schon aus früheren Arbeiten von Seidl bekannt, haben aber dennoch nichts von ihrer Kraft eingebüsst. In erdrückend langen Einstellungen lässt Seidl sein Publikum an den Qualen seiner Charaktere teilhaben. Während in der ersten Filmhälfte die eher trostlose Atmosphäre immer wieder durch tiefschwarzen Humor gebrochen wird, entwickelt sich Anna Marias Schicksal im Verlauf immer mehr zu einer mit physischen und psychischen Gewalt durchsetzten Höllenfahrt. Am Ende des Films könnte das Paradies nicht weiter entfernt sein und man wünscht sich, dass der Regisseur seiner Protagonistin einen letzten Funken Hoffnung lassen würde. Vielleicht gewährt er uns dies in seinem Trilogie-Abschlussfilm Paradies: Hoffnung, welcher im Juni bei uns in den Kinos startet.

Claudio Fuchs


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