Neben Lichterketten und Süssigkeiten lockt Weihnachten auch mit spirituellen Versprechen. Der Feiertag symbolisiert nicht nur die Geburt von Jesus, sondern zelebriert auch implizit das Ideal einer friedfertigen Gesellschaft ohne Zwiespalt oder Ungerechtigkeit. Hinter allem Kommerz, den wir in den letzten Jahren angehäuft haben, verbirgt sich der Wunsch nach einem Tag harmonischen Zusammenseins, an dem Arme und Reiche, ungeachtet aller Klassen-, Rassen- und Geschlechterunterschiede, sich die Hände reichen und gemeinsam am selben Tisch speisen.
In Plácido will eine wohltätige Organisation diese Wunschvorstellung in die Wirklichkeit übertragen. Mit einem Appell an Moral und Solidarität fordert sie die wohlhabenden Bürgerinnen und Bürger einer spanischen Kleinstadt auf, ihr Glück mit der Gemeinschaft zu teilen und für das Heiligabendfestmahl eine arme Person in ihr Heim einzuladen. Unterstützt von Kirche, Staat und privaten Gönnern gelingt es ihr tatsächlich, die ortsansässigen Bettler auf verschiedene Haushalte des Bürgertums zu verteilen.
Doch die vermeintliche Utopie entpuppt sich schnell als Desaster. Die Gutbetuchten instrumentalisieren ihre unkonventionellen Gäste, um sich vor Presse und Mitmenschen in spendablem Licht zeigen zu können. Die eigentlichen Bedürfnisse der Armen werden konstant ignoriert oder paternalistisch als einfältig abgetan. Als einer der Geladenen einen Herzinfarkt erleidet, lassen ihn seine Gastgeber heimlich aus dem Haus schaffen, um einen Skandal zu vermeiden. Plácido selbst, der von der wohltätigen Organisation als Fahrer angestellt wurde, versucht während des gesamten Abends, die ausstehende Rechnung für sein Auto zu begleichen, wobei er konstant gegen bürokratische und individuelle Gleichgültigkeit ankämpfen muss.
Mit seinem modernen Weihnachtsmärchen entlarvt Regisseur Luis García Berlanga die vermeintlich christlichen Wertvorstellungen des Franquismus als blosse Illusion. Die vordergründig altruistische Oberschicht ist nichts weiter als eine Ansammlung scheinheiliger Gutmenschen, die nur so lange vehement für die Weltverbesserung einsteht, bis sie dafür persönliche Opfer erbringen muss. Anders als sein Landgenosse Luis Buñuel, der im gleichen Jahr mit Viridiana ebenfalls die bürgerlichen Moralvorstellungen Spaniens satirisch auf die Spitze trieb, verzichtet Berlanga in Plàcido allerdings weitgehend auf Polemik. Seine Figuren sind keine eindimensionalen Karikaturen und die bissigen Dialoge erwecken nicht den Anschein von Didaktik. Vielmehr zeigt er auf organische und überraschend leichtfüssige Weise, wie der soziale Gedanke der Feiertage an Eigeninteressen und Kleinsichtigkeit scheitert.
Berlangas Leben war untrennbar mit der Gewaltherrschaft Francos verlinkt. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde sein Vater als Mitglied der Volksfront inhaftiert. Um ihm zu helfen und die Familie vor dem Verdacht subversiver Aktivitäten zu befreien, ging Berlanga 1941 freiwillig mit einer Division spanischer Soldaten an die Ostfront, wo er die Schrecken des Kriegs hautnah erlebte. Nach seiner Rückkehr studierte er Film und avancierte zum Regisseur. Mit schwarzen Komödien wie Bienvenido, Mr. Marshall und El Verdugo etablierte er sich innert weniger Jahre als einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit. Die regierungskritischen Untertöne seiner Filme kaschierte er mit scheinbar harmlos anmutendem Humor, wodurch er trotz dem missbilligenden Auge des Regimes unbehelligt seiner Arbeit nachgehen durfte. Erst nach Francos Tod wurden die linksgerichteten, egalitären Werte seines Werks in der Öffentlichkeit thematisiert und gefeiert.
Dieser Egalitarismus spiegelt sich auch in der formalen Konstruktion von Plácido wider. Trotz des Titels liegt der inszenatorische Fokus des Films auf der Betrachtung einer gesamten Gesellschaft. In den meisten Szenen stehen keine Einzelpersonen im Vordergrund, sondern grössere Gruppen; Figuren betreten und verlassen abwechselnd das Bild, einzelne Gesprächsfetzen verdichten sich zu einer fast schon experimentell anmutenden Toncollage und die Kamera wandert auf der Suche nach Subjekten konstant durch die Räume. Dieser kollektive Ansatz führt in Kombination mit den an eine Screwball-Komödie angelehnten, extrem schnell abgefeuerten Dialogen dazu, dass man beim Schauen kaum mit der komplexen Struktur schritthalten kann. Als ich den Film zum ersten Mal sah, tat ich es gleich zweimal. Einmal mit Untertiteln, um der vielschichtigen Handlung zu folgen und kurz darauf ohne Untertitel, um mich ganz auf die eleganten Kompositionen und das verflochtene Schauspiel zu konzentrieren. Seither habe ich Plàcido noch zwei weitere Male gesehen, und bei jeder Sichtung entdecke ich eine neue Nuance, die mir zuvor entging. Wenige Filme ausserhalb des Oeuvres von Jean Renoir offerieren eine so reichhaltige Betrachtung menschlicher Interaktionen.
Seine stilistisch unkonventionelle und perfekt orchestrierte Vermischung von Sozialkritik und Komödie macht Plàcido für mich zu einem der besten Weihnachtsfilme und zweifellos dem besten Film über Weihnachten selbst. Eine messerscharfe Kritik an der Scheinheiligkeit, die den grundsätzlich noblen Gedanken des Fests der Liebe zu ersticken droht. Zugegebenermassen kein Film, der einen in Feiertagsstimmung versetzt, aber dafür einer, der umso eindringlicher verdeutlicht, wie wichtig diese Feiertagsstimmung eigentlich wäre.
Mischa Haberthür