Kino immer anders


Szenen im Alltag einer wohlhabenden Familie. Ein Ausflug mit dem neuen Boot auf dem Fluss, eine Gartenparty oder die Feier eines Geburtstages. Alles sieht friedlich aus, das Haus gepflegt, der Garten wunderschön, die Kinder und die Eltern sind glücklich. Es scheint, als könnte nichts diese Idylle stören. Und für die Familie mag das wohl so stimmen, doch der Schein trügt, denn der Garten der Familie Höss grenzt nämlich direkt an das KZ Ausschwitz. Die hohe Gartenmauer ist die Mauer des Arbeitslagers. Stören lässt sich die Familie davon aber nicht. Rudolf Höss geht als Kommandant des Lagers seiner Arbeit gewissenhaft nach, seine Frau Hedwig ist währenddessen besonders stolz auf ihren Garten und kümmert sich gerne um diesen, um das Haus und die Kinder. Dies ändert sich während des Filmes auch nicht. Die grössten Probleme entstehen für die Familie nur dann, wenn Rudolf möglicherweise versetzt wird. In diesen Momenten wirkt der Film schon fast wie ein banales Familiendrama. Beinahe nichts von dem, was die Familie diskutiert, scheint wirklich von Bedeutung zu sein, und auch kommt die Naziideologie in den Gesprächen nur selten zum Vorschein. Die Juden, die nebenan sterben, sind dabei für die Familie Höss kein Thema. Nur wenn die Mutter von Hedwig mal zu Besuch kommt, wird kurz eine ehemalige jüdische Nachbarin erwähnt. Jedoch nicht, weil man sich um sie sorgt, sondern weil beim Verkauf ihres Hab und Gutes die schönen Vorhänge der Mutter gerade noch weggeschnappt wurden.
Auf aussergewöhnliche Weise fängt Jonathan Glazer dabei das geschehene ein. Es wurde hauptsächlich mit versteckten Kameras gefilmt, wodurch sowohl eine Objektivität aber vor allem auch eine Natürlichkeit im Schauspiel herbeigeführt wird.
Konstant bleibt er bei der Familie, nie sehen wir das Leid der Opfer im Lager nebenan. Dies ist auch eine der grössten Stärken des Filmes. Denn ein Spielfilm wird wohl nie den Horror der damaligen Zeit wahrlich darstellen können. Zudem wird so auch die Banalität des Bösen den Zuschauenden so gezeigt, wie man es im Kino noch nie gesehen hat. Oder noch wichtiger, wie man es noch nie gehört hat, denn der Film brilliert, wenn es um den Einsatz von Ton geht. Während wir den trivialen Gesprächen der Familie Höss folgen, hören wir konstant im Hintergrund Geräusche aus dem Lager, das Geschrei, die Schüsse, marschierende Stiefel, Gebell. Die Familie blendet all dies aus, ignoriert was gerade vor ihrer Tür passiert, und lebt einfach weiter, als ob nichts wäre. Stattdessen badet man lieber im Garten, wovon die Figuren meinen, es sei das Paradies auf Erden. Es ist ein Film über den Holocaust, der einem im Gedächtnis bleibt, gerade weil wir nichts sehen. Wir malen es uns aus und lassen es vor unserem inneren Auge ablaufen. Die Unmöglichkeit wegzuschauen, macht den Film zu einem der erschreckendsten Kinoerlebnisse der letzten Jahre.
Es ist aber nicht nur ein Film über eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte, es ist auch ein aktueller Film. Er stellt uns die Frage, was wir ausblenden, welche Mauern wir errichten, welchen Schrecken wir ignorieren, um unserem Alltag nachzugehen. Sandra Hüller als Hewdig sagt einmal zu ihrer Mutter, als sie über die etwas hässliche und entblösste Mauer, welche im Garten steht, diskutieren, dass das ja nicht so schlimm sei, denn Reben werden das ja alles bald überdecken. Jonathan Glazer hat mit The Zone of Interest auch einen Film über die Vergessens- und Erinnerungskultur geschaffen, ein Umstand, der in einem späteren Perspektivwechsel auch eindrucksvoll klar wird.
Es ist ein Meisterstück der modernen Filmkunst, ein Film, der einem im Gedächtnis bleibt. Knapp 5 Monate ist es mittlerweile her, seitdem ich den Film am ZFF sehen konnte und dennoch vergeht keine Woche, in der ich nicht an den Film denke. Glazer fordert uns auf genauer hinzusehen und uns nicht hinter den Mauern, welche wir um uns errichten, zu verstecken. Gerade in Zeiten des Krieges ist es ein Film von grösster Dringlichkeit, der von allen gesehen werden sollte.
Jérôme Bewersdorff


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