Kino immer anders


Der Beginn des zeitgenössischen LGBT-Kinos wird oftmals auf die frühen 70er Jahre datiert, als zahlreiche Künstler nach dem Stonewall-Aufstand aktiv für mehr Toleranz plädierten. Bei der verdienten Würdigung dieser Pioniere geht teils vergessen, dass sich bereits zuvor Filme für LGBT-Rechte einsetzten. Zu den bedeutendsten dieser Vorläufer zählt Basil Deardens 1961 entstandener Thriller Victim.

Dearden hatte schon in früheren Filmen wie Pool of London und Sapphire seine sozialbewusste Ader bewiesen. In Victim richtete er seinen kritischen Blick auf das britische Justizsystem, welches zu dieser Zeit gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe stellte. 

Die Kriminalisierung von Homosexualität machte schwule Männer zu einem idealen Opfer für Erpressungsversuche. Mit einem solchen sieht sich im Film der Anwalt Melville Farr (Dirk Bogarde) konfrontiert. Anstatt das geforderte Schweigegeld zu zahlen, beginnt er eigenständig nach dem Erpresser zu fahnden.

Während seiner Suche trifft er auf Schwule aus völlig unterschiedlichen Lebenssituationen, die jedoch alle unter der drakonischen Bestrafung ihrer Sexualität leiden. Und obwohl Farr schlussendlich seinen Ruf zu schützen vermag, endet der Film mit der klaren Botschaft, dass nur ein legales Umdenken solche erpresserischen Machenschaften unterbinden kann. 

Die keusche und paternalistisch angehauchte Darstellung der Schwulenszene in Victim mag aus heutiger Sicht etwas veraltet daherkommen, doch seine Suggestion, das Schwule es verdienen, mit Sympathie behandelt zu werden, war damals äusserst heikel. Das BBFC diskutierte den Film intensiv.

Für eine Freigabe verlangte es die Entfernung einiger kontroverser Szenen und vergab auch nach dieser Massnahme das Prädikat X, das damals fast ausschliesslich für sexuell explizite Werke verwendet wurde. Noch grösseren Widerstand regte sich in den USA. Die MPAA verweigerte Victim ihr Gütesiegel, was eine Aufführung in den Kinos verunmöglichte. Erst ein Jahr später, nach einer Anpassung des Production Codes, erhielt der Film eine amerikanische Premiere. 

Trotz des grossen Widerstands entwickelte sich Victim zu einem beachtlichen Publikumserfolg. Sein Einfluss auf die öffentliche Meinung gilt als einer der Gründe, warum Grossbritannien 1967 Homosexualität entkriminalisierte. Insofern ist der Film nicht nur eine Erinnerung an die einstige Skandalträchtigkeit der LGBT-Thematik, sondern auch ein eindrückliches Beispiel für die Macht des Kinos im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit. 

Mischa Haberthür


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