Kino immer anders


342 Filme aus 71 verschiedenen Ländern in 11 Tagen. Die Berlinale 2020 bot auch dieses Jahr eine Überfülle an Möglichkeiten nach filmischen Perlen zu tauchen. Ich hatte die Möglichkeit, die ersten sechs Tage des Festivals zu besuchen und so viel Kinoluft wie möglich zu schnuppern. Von den offiziellen Gewinnerfilmen (There Is No Evil im Wettbewerb, Otac in der «Panorama»-Sektion) konnte ich leider keine Vorführung erwischen. Ich will aber über drei Filme berichten, die mich überrascht, berührt und nachhaltig zum Denken gebracht haben und die hoffentlich den Weg in die Schweizer Kinos finden – oder zumindest in die Untiefen von Netflix.

Ein erstes Highlight der «Panorama»-Sektion war Mogul Mowgli, welcher im wunderschönen Kino Zoo Palast Weltpremiere feierte. In Bassam Tariqs Spielfilmdebut brilliert Riz Ahmed als britisch-pakistanischer Rapper Zed, der kurz vor der Tournee steht, die ihm endlich zum Durchbruch verhelfen soll. Zuvor will er seiner Familie, von der er sich schon lange entfremdet hat, noch einen Besuch abstatten. Vor allem die Beziehung zu seinem Vater (Alyy Khan) ist belastet durch dessen konservatives Weltbild, geprägt von Traditionen und Ansichten, die nicht mit Zeds Rapperkarriere zusammenpassen wollen. Dann aber erkrankt Zed an einer Autoimmunkrankheit, die ihn innert weniger Tage ans Bett fesselt. Er ist auf die Hilfe seiner Familie angewiesen und muss folgenreiche Entscheidungen treffen, die den Konflikt mit seinem Vater weiter befeuern. In seinem Spitalbett taucht Zed immer tiefer in eine halluzinatorische Traumwelt ab, in denen sich Erinnerungen, Mythen und Traumata zu vermischen beginnen.

Bassam Tariq und Riz Ahmed haben beide pakistanische Wurzeln und erzählen mit Mogul Mowgli eine bewegende Geschichte über einen Mann, der zerrissen ist durch die gleichzeitige Anziehung und Abstossung seiner Herkunft. Handwerklich virtuos spielt Bassam Tariq mit verschiedenen Zeit- und Bewusstseinsebenen, lässt diese zu einem intensiven Amalgam aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit verschmelzen. Der Plot mag einen voraussehbaren Verlauf nehmen, doch die lebendigen Charaktere, die überraschende Inszenierung und der fantastische Soundtrack versprechen Grosses für die weitere Karriere des jungen Regisseurs.

In der Sektion «Forum», die für «Reflexion des filmischen Mediums, gesellschaftlich-künstlerischen Diskurs und ästhetischen Eigensinn» steht, begeisterte mich Anne at 13.000 ft.

Wir lernen Anne (Deragh Campbell) kennen, als sie mit ihrer besten Freundin Sarah (Dorothea Paas) zu deren Junggesellinnen-Abschied einen Fallschirmsprung wagt. Im freien Fall stürzt Anne in die Tiefe, dem Boden in ungebremstem Tempo näherkommend. Was danach folgt, ist eine Art Zeitlupenversion dieses freien Falls. Anne arbeitet in einer Kindertagesstätte, wo sie mit viel Herzblut die Kleinkinder betreut, unter dem strengen Blick ihrer Vorgesetzten. An Sarahs Hochzeitsfeier bandelt sie mit Matt (Matt Johnson) an, aus einem betrunkenen Flirt entsteht eine zarte Liebe. Doch die keimenden Gefühle werden durch Annes erratisches Verhalten immer wieder sabotiert und auch am Arbeitsplatz häufen sich die Konflikte. Der Sturz in die Tiefe nimmt seinen Lauf.

Anne at 13.000 ft ist ein eindringliches Portrait einer komplexen und komplizierten Frau. Deragh Campbell spielt Anne mit grossem Gespür für die kleinen Gesten, formt eine wunderbare Figur, die mit ihren Dämonen ringt und dabei immer wieder scheitert. Die Kamera bleibt hautnahe an ihrem Gesicht, lässt uns ungeschönt Teil haben an Annes Freude und Verzweiflung. Kazik Radwanski, der für die Regie und das Drehbuch verantwortlich ist, gelingt das Kunststück eines völlig klischeefreien Indie-Diamanten.

Von all den Filmen, die ich am Festival gesehen habe, vergebe ich meinen persönlichen Goldenen Bären an Exil von Visar Morina.

Xhafer (Mišel Matičević) scheint ein Vorzeige-Migrant aus dem Kosovo zu sein. Mit seiner deutschen Ehefrau (Sandra Hüller) und den drei Kindern wohnt er in einem grosszügigen Einfamilienhaus in der Vorstadt, arbeitet tüchtig in der Forschung eines Pharmaunternehmens und spricht fliessend Deutsch. Doch dass Xhafers Leben nicht so harmonisch ist, wie es scheint, ist ab der ersten Szene klar, als er von einer toten Ratte vor der Haustür empfangen wird. Ein Kinderstreich? Oder vielleicht doch eine fremdenfeindliche Botschaft? Xhafers Verunsicherung wächst, als Meetings verschoben werden ohne, dass er benachrichtigt wird und Datensätze nie den Weg in seinen Posteingang finden. Bald ist er überzeugt, dass sein Mitarbeiter Urs (Rainer Bock) hinter allem steckt, dass an seinem Arbeitsplatz eine rassistische Verschwörung vonstattengeht. «Könnte es sein, dass es nicht daran liegt, dass du Ausländer bist, sondern einfach ein Arschloch?», giftet Xhafers Ehefrau. Denn Xhafers Weste ist nicht so weiss, wie er sie präsentiert.

Exil ist eine brillante Studie über das Fremdsein in einer Gesellschaft, in der alle ach so darum bemüht sind, politisch korrekt zu sein und die es Aussenstehenden trotzdem fast unmöglich macht, nicht ständig an ihr Anderssein erinnert zu werden. Doch wo endet die Fremdenfeindlichkeit und wo beginnt die Paranoia? Exil gibt keine einfachen Antworten und hinterlässt niemanden ungeschoren. Fantastisch!

Claudio Fuchs

 


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